Interview Demenzberaterin Gabriele Endter
von der Nachbarschaftshilfe Kolbermoor
Kolbermoor – Etwa 102000 Menschen mit
Demenz werden in Bayern zu Hause betreut. Im
Interview mit den OVB-Heimatzeitungen erklärt
Gabriele Endter (77), Vorstandsmitglied der
Nachbarschaftshilfe Kolbermoor, wie pflegende
Angehörige mit Beratungen, runden Tischen für
Familien, stundenweiser Entlastung und Treffen
vor der gesellschaftlichen Isolation bewahrt
werden.
Demenz bleibt in betroffenen Familien oder
Seniorenheimen meist hinter verschlossenen
Türen. Wie erreichen Sie pflegende Angehörige?
Ich biete jeden Mittwoch eine Demenzberatung an. Pflegende Angehörige können sich bei mir melden,
damit wir gemeinsam ihre Sorgen besprechen oder die häusliche Situation anschauen können.
Nach der langen Corona-Pause beginnen am Mittwoch, 22. März, nun auch wieder die Treffen unserer
Angehörigen-Demenz-Gruppe. Weitere finden am 19. April, 17. Mai und 14. Juni, jeweils ab 15 Uhr statt. In
unserem neuen Domizil in der St.-Anna-Apotheke am Bahnhofsvorplatz stehen uns dafür jetzt auch
ideale Räume zur Verfügung.
Wie können Sie pflegenden Angehörigen helfen?
Wir können sie befähigen, mit dem an Demenz erkrankten Menschen und der gesamten Situation besse
umzugehen. Wir geben einen fachmännischen Rat, klären auf, vernetzen, helfen beim Gespräch in der
Familie, können stundenweise zu Hause entlasten und bieten unser Treffen für pflegende Angehörige an
Im Juni haben wir wieder einen Fachvortrag im Programm, der über die Krankheit informiert und
Anregungen gibt, wie man den schwierigen Tagesablauf mit einem demenzerkrankten Menschen
harmonisch gestalten kann.
Woran erkennt man, ob ein Familienmitglied
dement ist?
Demenz entwickelt sich oft unbemerkt über viele Jahre und Stadien. Ein Anzeichen ist beispielsweise de
Verlust intellektueller Fähigkeiten. Wortfindungsstörungen und eine verminderte Ausdrucksfähigkeit
führen dazu, dass Betroffene dem Gesprächsverlauf nicht mehr richtig folgen.
Später kommen Gedächtnis- und Orientierungsprobleme hinzu, Vergesslichkeit für alltägliche
Begebenheiten, Schwierigkeiten bei gewohnten Aufgaben, Verwirrtheit und Hilflosigkeit. Auch auffällige
Veränderungen der Stimmungslage, des Verhaltens oder der Persönlichkeit sind mit einer Demenz
verbunden. Oft erkennen Betroffene zudem ihre Angehörigen nicht mehr, was für viele besonders
schmerzlich ist. Was all das für die Familien bedeutet, kann niemand wirklich erahnen.
Ist ein Pflegeheim dann nicht die beste Lösung?
Die meisten Menschen möchten in ihrem gewohnten häuslichen Umfeld alt werden. Aber natürlich ist
das Zusammenleben mit einem an Demenz erkrankten Menschen nicht einfach. Die ganze Familie ist
betroffen. Jeder muss mit der neuen Situation umgehen und sein Leben völlig umstellen. Die Betreuung
FOTO GERLAC
Demenzberaterin Gabriele Endter lädt nach langer Corona-
Pause am Mittwoch, 22. März, wieder zur Angehörigen-
Demenz-Gruppe in die Nachbarschaftshilfe Kolbermoor ein.
des Demenzkranken belastet Körper und Seele. Deshalb bieten wir beispielsweise den „Runden Tisch“
für Familien an. So können wir alle Familienmitglieder über die momentane Situation des Betroffenen
aufklären und gemeinsam nach der für alle besten Lösung suchen. Das kann eine Pflegeeinrichtung sein
muss es aber nicht.
Oft möchten die Ehepartner oder Kinder den betroffenen Menschen zu Hause pflegen. Gemeinsam mit
ihnen können wir ein Netzwerk an Hilfen knüpfen und praktische Problemlösungen für Zuhause
erarbeiten.
Es ist nicht einfach, einen geliebten Menschen auf dem Weg des Vergessens zu begleiten. Was raten Sie
den pflegenden
Angehörigen?
Einen Perspektivwechsel. Wer die Welt mit den Augen eines Demenzkranken sieht, versteht ihn besser.
Deshalb ist es wichtig, die Krankheit zu begreifen, auf ihren Verlauf vorbereitet zu sein und nie zu
vergessen, dass die geistigen Fähigkeiten zwar allmählich verloren gehen, die Seele aber nicht dement
wird. Das ist die Voraussetzung für einen respekt- und liebevollen Umgang mit dem Betroffenen, mit dem
seine Würde gewahrt, sein Selbstwertgefühl erhalten und ihm ein Gefühl von Geborgenheit und Freude
vermittelt wird. Das braucht viel Kraft, aber auch Hilfe von außen.
Nach einer repräsentativen Umfrage der Deutschen Krankenversicherung möchten 53 Prozent der
Bundesbürger lieber früher sterben als mit Demenz zu leben. Wie erklären Sie sich das?
Ich vermute, dass das in der Angst vor einem extremen Verlust an Lebensqualität begründet ist. Deshal
sind Aufklärung und Hilfen unendlich wichtig. Die Krankheit ist Bestandteil unserer alternden
Gesellschaft, die Zahl der Menschen mit Demenz nimmt zu.
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft geht von 1,8 Millionen Betroffenen in Deutschland aus, in Bayern
sind es circa 250400. Deshalb sieht es die Nachbarschaftshilfe Kolbermoor auch als ihre Aufgabe an,
Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen Hilfen zu geben, die es ihnen ermöglichen, ihre
Lebensqualität trotz der vorliegenden Erkrankung aufrechtzuerhalten.
Können die Angehörigen in der Gruppe Kraft schöpfen?
Auf jeden Fall. Die tägliche Auseinandersetzung mit der allmählichen Veränderung des geliebten
Menschen verlangt oft übermenschliche Kräfte. Da ist es ganz wichtig, mit den Problemen, Ängsten und
Sorgen nicht allein zu sein.
Mit anderen Betroffenen zu reden, die in der gleichen Situation sind, gibt Kraft und auch wieder Mut.
Hinzu kommt die entspannte Atmosphäre, das Gespräch bei einer Tasse Tee oder Kaffee. Damit unsere
Treffen wirklich eine Auszeit für die pflegenden Angehörigen sind, kann in dieser Zeit auch eine unserer
ausgebildeten Demenzhelferinnen die Betreuung des Erkrankten übernehmen.
Interview:Kathrin Gerlach